An dich denken, Jürg Altherr

Ju?rg Altherr 2010

Jürg Altherr, 2010

Lieber Jürg

Ich habe dich im Jahre 1991 im Zürcher Seefeld in einer bunt zusammengewürfelten Gruppe kennen gelernt. Der ehemalige Shaolin-Mönch Lekshe, zeigte uns mittels WuChi-Technik, wie man mit „Schatten boxt“. Ich wusste nichts von dir und kannte dich nur als motivierter WuChi-ler. Mir fiel auf, dass dich die Partnerübungen besonders beseelten: Hier zeigtest du dich kämpferisch, luftig boxend, sperrig, überraschend, aber stets mit einem einladenden Lächeln auf den Lippen, welches ein gutes Ende zu prophezeien schien. „Ich will dich herausfordern, debattiere, sag, wer du bist!“ War WuChi nun trainieren oder meditieren? Körperlich sehr präsent und geistig stets sehr wach, schien dich beides zu interessieren. Und mehr.

Matto auf dem Hochseil
Eines Abend erzählte ich nach dem WuChi am Beizentisch, dass ich daran sei, einen alten Traum zu realisieren. Ich hatte ein Stahlseil, einen Seilzug, eine Eisenstange und Schuhe mit weicher Ledersohle gekauft. Das Seil hatte ich im Hinterhof zwischen einem Baumstamm und einer stählernen Säule einer offenen Halle gespannt und täglich, etwas an Höhe gewinnend, mir das Gehen auf dem Hochseil beigebracht. Mir schien das alles gut im Gleichgewicht, statisch einwandfrei und in ein paar Monaten für eine Aufführung bereit. Das Tribut an den Seiltänzer „Il Matto“ aus Fellinis Film „La Strada“ war bereit, Zampanos furchterregendes Motorrad gebraucht angeschafft und die Zürcher Schauspielerin für die Rolle der Gelsomina angefragt. Alles schien auf bestem Wege zu sein. Dass die mit einem schweren Blechdach gedeckte Halle vom Zug des Seiles laut krachte und die gesunde Rinde des Baumes vom tonnenschweren Zug des Seiles riss, schien meine blindwütige Begeisterung nicht zu mindern.

Seile, Gewichte, Spannungen
Da erhobst du dich, Jürg, von deinem Stuhl und setztest dich mit wachen, offenen Augen und Ohren neben mich, denn was ich erzählte, war, wie ich später realisieren durfte, deine grosse Leidenschaft: Statik, Balance, Natur und Gestaltung des öffentlichen Raums. So genoss ich deine Nähe und dein waches Interesse an meinen Seilen, Gewichten, Spannungen. Ja, er war schon etwas verrückt, mein Traum – es sollte eine Überquerung auf Dachhöhe, also etwa 12m ab Boden in der Kluggasse 10 in der Rapperswiler Altstadt sein. Aber mit dir diskutierend sind neue Bilder und Ideen entstanden, die zu einer wunderbaren Vision führten: Am grossen Hauptplatz unterhalb des Schlosses balanciert der Narr mit beschaulicher Ruhe auf einem Zick-Zack-Spaziergang über dem mittelalterlichen Markt.

Zick-Zack
Auch heute noch beseelt mich dieses Bild, das ich vor meinem inneren Auge wie ein kleines GIF wieder und wieder angucke. Und ich weiss: Wenn du, Jürg, mit den Bewohnern, Besitzern, Denkmalschützern, Feuerpolizisten, Behörden, Politikern, Journalisten, usw. um Bewilligungen und Kooperationen hättest verhandeln müssen: Du hättest es mit deiner Beharrlichkeit geschafft, das Zick-Zack-Spaziergang-Werk zu realisieren! Ich wäre als glücklicher Narr über den Köpfen der staunenden Passanten auf dem Seil gegangen, mit einem heiteren und zugleich schelmischen Lächeln im Gesicht. „Kunst muss sperrig sein.“ sagtest du zu Lebzeiten. Unter den Anwesenden hätte ich dein schelmisches Augenzwinkern wieder erkannt. Und du hättest gleich wieder die Diskussion mit einem Gegner der Aktion gesucht. Ich stelle mir vor, wie wir beiden das Werk zu Fr. 1.- zurückgekauft hätten und in einer Blitzaktion, am Tag bevor auf dem Sechseläutenplatz die Sonnenschirme aufgestellt worden wären, hier den Seiltänzer-Zick-Zack-Spaziergang aufgebaut hätten.

„Man muss den Wünschen Zeit lassen, in Erfüllung zu gehen.“ Auch dies konntest du sein: Geduldig! Beharrlich und geduldig. Mit dieser Haltung begehe ich gerne seither öffentlichen Raum und freue mich, dass Kunst nicht nur Diskussionen auslösen soll, sondern auch einfach schön und berührend sein darf. Unser Zick-Zack-Spaziergang wird es für mich für immer bleiben: Schön.

Danke, Jürg.

Jürg Altherr, Hannes Strebel, Pendelturm, Fällanden, 2008

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